Transkript anzeigen Abspielen Pausieren

FÖJ für Geflüchtete – Ein Erfahrungsbericht aus Schleswig-Holstein

Interview mit Christine Gantner vom FÖJ-Träger Koppelsberg

In Schleswig-Holstein wird zusätzlich zum klassischen FÖJ das Projekt „FÖJ mit Geflüchteten“ angeboten. Jährlich wird 10 jungen geflüchteten Menschen die Möglichkeit zur persönlichen und beruflichen Orientierung gegeben. Seit April 2017 ist Christine Gantner Ansprechpartnerin für dieses Projekt.

Mehr zum FÖJ für Geflüchtete in Schleswig Holstein

Zwei FÖJler mit Fluchthintergrund bei der Arbeit im Garten. © Ökologische Freiwilligendienste Koppelsberg

"Es ist schön zu sehen, wie schnell sich Hemmnisse und Befürchtungen durch gemeinsames Erleben abbauen."

Christine, seit 2017 gibt es bei Euch ein FÖJ-Programm speziell für Geflüchtete. Kannst Du einmal grob schildern, wie das Projekt “FÖJ mit Geflüchteten” entstanden ist. Was waren da die Hintergründe für die Etablierung des Projektes? Was waren die Ziele? Wie lange hat es gedauert, bis das Projekt auf den Weg gebracht wurde? Wer war alles daran beteiligt?

2016 beschloss die schleswig-holsteinische Landesregierung 10 zusätzliche Plätze im FÖJ für geflüchtete Menschen zu finanzieren. Die Idee: Teilnehmende aus Deutschland und Teilnehmende mit Fluchthintergrund arbeiten parallel auf einem Platz zusammen. Auf Augenhöhe können die etwa gleichaltrigen jungen Menschen so interkulturell von- und miteinander lernen. Die Teilnehmenden mit Fluchterfahrung können ihre Sprachkenntnisse im FÖJ-Alltag aktiv anwenden und verbessern, berufliche Erfahrungen sammeln, am gesellschaftlichen Leben teilhaben und beginnen es mit zu gestalten.

Das Projekt startete als Kooperationsprojekt mit dem zweiten FÖJ-Träger in Schleswig-Holstein, dem FÖJ Wattenmeer, mit dem Jahrgang 2017/18, also im August 2017. Vier Monate vorher habe ich mit dem konkreten Aufbau begonnen und Multiplikator*innen in der Arbeit mit Geflüchteten zu einem Vernetzungstreffen eingeladen, über die dann auch die ersten sieben Teilnehmer*innen kamen. Diese Startphase wurde mit Bingo-Mitteln finanziert. Über das Ministerium für Energiewende, Landwirtschaft, Umwelt, Natur und Digitalisierung finanziert das Land eine halbe Personalstelle und interkulturelle Fortbildungen, über die Sonderförderung des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend können nach bestimmten Kriterien u.a. Kosten für Sprachkurse und Reflexionsseminare abgedeckt werden.


Kannst du uns die Eckpfeiler des Projektes schildern? Inwiefern ist das Projekt speziell auf Geflüchtete zugeschnitten? Gibt es spezielle Unterstützung- oder Beratungsangebote, die das Projekt ausmachen?

Die Bewerber*innen mit Fluchthintergrund werden in einem individuellen Bewerbungsverfahren zum Freiwilligendienst beraten, zu Vorstellungsgesprächen begleitet und in organisatorischen Fragen mit Behörden unterstützt. Zu jedem anerkannten FÖJ-Platz kann von einer Einsatzstelle ein zusätzlicher Platz für eine*n Freiwillige*n mit Fluchtbezug bereitgestellt werden. Die Kosten für diesen zusätzlichen Platz sind auf den Grundbeitrag von 160€ im Jahr reduziert. In Absprache mit der Einsatzstelle können die Teilnehmenden je nach Möglichkeit auch in der Arbeitszeit Sprachkurse besuchen und dafür freigestellt werden.

Unser pädagogisches Konzept ist inklusiv, d.h. die Teilnehmenden mit Fluchtbezug sind in die regionalen Seminargruppen integriert. Um die Teambildung und den Einstieg in das FÖJ zu erleichtern, findet zu Beginn des Freiwilligenjahres ein interkulturelles Einführungsseminar für die Teams aus deutschen Freiwilligen und Geflüchteten statt und in der Halbzeit des FÖJ bzw. am Ende jeweils ein Reflexionsseminar. In diesen Seminaren geht es schwerpunktmäßig um Kommunikation und Kooperation, um persönliche und berufliche Orientierung sowie um individuelle und teamorientierte Reflexion des FÖJ. Teamer*innen erhalten interkulturelle Fortbildungen um sprachliche Hemmnisse in den Seminaren abzubauen, den gegenseitigen Austausch und das miteinander Lernen zu befördern.


Gibt es spezielle Begleitungs- und Beratungsangebote für die Einsatzstellen? Wie funktioniert die Zusammenarbeit mit den Einsatzstellen?

Ich bin für die Einsatzstellen jederzeit telefonisch erreichbar und biete im Bedarfsfall auch kurzfristig   einen Besuch zum persönlichen Beratungsgespräch an. Dies ist besonders in der Einarbeitungsphase oder in schwierigen Situationen wichtig. Ich vernetze mich mit dem betreuenden Umfeld der Teilnehmenden und versuche für alle Beteiligten eine möglichst große Transparenz bzgl. der Aufgabenverteilung und Zuständigkeiten herzustellen. Ziel ist es zusätzliche Aufgaben für die Einsatzstelle, welche über das FÖJ hinausgehen, zu vermeiden. Die Einsatzstellen haben bei Bedarf die Möglichkeit an interkulturellen Reflexionsseminaren teilzunehmen.


Inwiefern würdest Du sagen, braucht es dieses Projekt mit seinen spezifischen Angeboten, um Geflüchtete während des FÖJs zu begleiten?

Die  Bewerber*innen kommen mit ganz individuellen Voraussetzungen zu uns und es geht darum, einen geeigneten FÖJ-Platz zu finden, bei dem die persönlichen Bedürfnisse, Motivation und (sprachlichen) Fähigkeiten zu den Aufgaben und Tätigkeiten in der Einsatzstelle passen. Auch die Chemie muss stimmen. In den meisten Fällen ist dann die konkrete Zusammenarbeit von deutschen und geflüchteten Freiwilligen im Team für alle eine neue Erfahrung. Die persönliche Begleitung von Anfang an, der Aufbau eines stabilen Netzwerks und die zusätzlichen Angebote schaffen häufig erst den Zugang zu diesem neuen Terrain.


Gerade die Ansprache von Gruppen, die sonst eher selten bis gar nicht einen Jugendfreiwilligendienst absolvieren, wird von Trägern und Einsatzstellen immer wieder als Problem beschrieben. Wie sind da in eurem Projekt die Erfahrungen? Wie kommst Du in Kontakt mit der Zielgruppe bzw. wie und wodurch werden die jungen Geflüchteten auf Ihr Projekt aufmerksam und bewerben sich?

Die wenigsten Bewerber*innen kennen überhaupt einen Freiwilligendienst oder kommen über das vorrangige Interesse an ökologischen Themen zum FÖJ. Ihre Motivation ist Deutsch zu sprechen, und dafür in Kontakt mit Deutschsprachigen zu kommen und in einem Team mit Gleichaltrigen eingebunden zu sein, (endlich) einer sinnvollen Aufgabe nachzugehen und ihre Ausbildungschancen zu verbessern. Viele merken, dass sie im Sprachkurs nur begrenzt weiterkommen oder nur sehr langsam lernen und die schulische Hürde eine Ausbildung zu bestehen noch zu hoch ist. Das Interesse an BNE-Themen entsteht dann über Freude und Spaß am Austausch mit anderen bei der Arbeit und während der Seminare, in denen es ja um den Bezug zur eigenen Lebenswirklichkeit geht.

Die bisher insgesamt 16 Teilnehmenden kamen überwiegend in Begleitung von Engagierten in der Arbeit mit Geflüchteten oder beratend Tätigen und zunehmend auch – und das freut uns besonders - über ehemalige Freiwillige, also Mund-zu-Mundpropaganda.


Welche Hürden oder Barrieren hast Du im Projekt bisher feststellen können?

Jungen Geflüchteten die Idee eines Freiwilligendienstes zu vermitteln, welche Chancen und Möglichkeiten für sie persönlich darin liegen und dass sie sich damit eine gute Basis für ihren weiteren Weg schaffen können, obwohl sie erstmal einen „Umweg“ gehen und in dieser Zeit kein Geld verdienen, ist aus verschiedenen Gründen nicht immer leicht. Wir möchten nun die positiven Aussagen der ehemaligen Freiwilligen noch stärker nutzen, um die Zielgruppe anzusprechen und die sozialen Medien nutzen. Des weiteren möchten wir auch noch einmal die Jobcenter und weitere Träger ansprechen, die häufig nur zu anderen Maßnahmen beraten. Zurzeit haben wir auch nur zwei Teilnehmende und weitere zwei, die zum 01.10.19 starten wollen.

Weil ein Wohnsitzwechsel mit großen Schwierigkeiten verbunden ist, suchen wir im Prinzip ausschließlich nach Einsatzstellen in Wohnortnähe, das schränkt die Auswahl etwas ein.

Eine weitere Erfahrung ist, dass der interkulturelle Austausch nicht immer von allein passiert und es wichtig ist ihn zu begleiten. Inklusive, personenzentrierte Bildungsarbeit braucht Zeit und eine gute personelle und finanzielle Ausstattung. Sie macht allen viel Spaß, wenn das Konzept aufgeht und alle Teilnehmenden bereit sind ihre Komfortzone zu verlassen um sich auf etwas Neues einzulassen, auch wenn es zunächst anstrengender ist. Ein positives Feedback bzgl. der Seminare bekommen wir überwiegend erst am Ende des FÖJ, zu Beginn werden diese meistens als sehr anstrengend empfunden.


Was funktioniert Deiner Erfahrung nach gut im Projekt? Vielleicht hast Du ja auch ein Beispiel oder ein Highlight im Kopf, von dem du uns berichten kannst?

Die praktische Zusammenarbeit der Teams in den Einsatzstellen läuft bisher überwiegend sehr gut. Es hat sich gezeigt, dass Probleme bei der Arbeit oder im Miteinander nicht an Status oder Herkunft gebunden sind, sondern eher in z.B. der Motivation, dem Zwischenmenschlichen oder anderen Problemen begründet liegen. „Das ist ja bei den Geflüchteten wie mit allen anderen Teilnehmer*innen auch,“ formulierte neulich eine Einsatzstellenmitarbeiterin als ihr persönliches Fazit nach einem sehr positiven Jahr und einigen Vorbehalten im Vorfeld. Es ist schön zu sehen wie schnell sich Hemmnisse und Befürchtungen durch gemeinsames Erleben abbauen und wie einfach und selbstverständlich häufig ein menschlicher Umgang mit Problemen und Herausforderungen gerade auch von den jungen Leuten gelebt wird.

Das Wichtigste ist unserer Erfahrung nach die Motivation der einzelnen Freiwilligen, fast noch wichtiger als ein hohes Sprachniveau. Insgesamt sind die Rückmeldungen der Teilnehmenden in Bezug auf ihr Freiwilligenjahr sehr positiv. Neben der Verbesserung der Sprache gibt es die Aussage, dass sie viel gelernt haben und viele neue Erfahrungen mitnehmen. Letzte Woche hörte ich, dass eine ehemalige Teilnehmerin, die über Libyen, das Mittelmeer und Italien nach Deutschland kam, jetzt im Bio-Einzelhandel eine kaufmännische Ausbildung macht oder ein anderer Ehemaliger, der nach seinem FÖJ ehrenamtlich in seiner Einsatzstelle weiter bei den Gruppenangeboten aushilft. Das sind Highlights, die uns sehr freuen.

 

Das Interview wurde im August 2019 geführt.

 

Erfahrungen aus Schleswig-Holstein im Film: